Digitales Abbild schaut in die alpine Klimazukunft
Eine ganze Landschaft digital erfassen und daraus zukünftige Naturereignisse ableiten: Klingt nach Science-Fiction, ist aber dank "digitaler Zwillinge" Realität. Vor allem die Alpen profitieren von der Technologie, bei der Tirol zur Leitregion avanciert: drohenden Gefahren angesichts der Klimaänderung begegnet man mit Sensorik, detailgetreuen Abbildern und Künstlicher Intelligenz.
Im Bauwesen dienen digitale Zwillinge aus dem Computer Aided Facility Management (CAFM) dazu, Konstruktionsfehler schon vor Baubeginn aufzudecken. Sie erzeugen eine exakte 1:1-Kopie von Gebäuden, in der sich statische, architektonische und betriebliche Szenarien durchspielen lassen. Dieses Prinzip lässt sich im großen Maßstab auf Naturgefahren im alpinen Raum übertragen.
Arbeiten am virtuellen Objekt
Ein digitaler Zwilling ist die dynamische Abbildung eines realen Objekts, Systems oder Prozesses. Seine Daten stammen aus IoT-Sensorik, Satelliten und Drohnen. Die Darstellung umfasst den gesamten Lebenszyklus – von der Planung über den Betrieb bis hin zum Rückbau.
Mithilfe von KI lassen sich die Reaktionen des „echten“ Gegenstücks auf verschiedene Szenarien simulieren. So können Hochwasser, Erdbeben oder Materialermüdung virtuell durchgespielt werden – gefahrlos, aber mit wertvollen Erkenntnissen für die Praxis.
Das Ziel ist immer dasselbe: das physische Objekt durch kontinuierliche Rückkopplung zu optimieren. Ergebnisse aus den Simulationen fließen direkt in die Realität zurück.
Digitale Zwillinge werden anhand ihres Komplexitätsgrades unterschieden:
- Component Twins bilden die Basis und stellen einzelne Bauteile dar.
- Asset Twins zeigen das Zusammenspiel einfacher Einheiten.
- System Twins bilden größere Zusammenhänge ab.
- Process Twins erfassen ganze Prozessketten.
Dazu kommen der digitale Master, der den Soll-Zustand beschreibt, und der digitale Schatten, der mit Sensordaten den Ist-Zustand über den Lebenszyklus dokumentiert.
Stadt-Zwillinge als Vorbild für die Alpen
In Städten werden komplexe Modelle zu „Urban Twins“ zusammengeführt. Sie ermöglichen Simulationen zu Verkehr, Infrastruktur, Klima oder Besucherströmen.
Überträgt man dieses Prinzip auf die Alpen, entsteht ein „alpiner Zwilling“. Hier fließen Topografie, Mikroklima, Naturgefahren, Tourismus, Biodiversität und Schutzgebiete ein. So wie der Stadtzwilling zur Optimierung von Mobilität und Energieversorgung beiträgt, dient der alpine Zwilling vor allem dem Katastrophenschutz, dem Umweltmonitoring und der nachhaltigen Tourismusplanung.
Vergleich man Stadt- und Alpen-Zwilling, so fallen folgende Unterschiede auf:
Ziele
- Stadt: Optimierung von Gebäude-Infrastruktur, Verkehr, Energieversorgung und Bewegungsströmen; höhere Lebensqualität.
- Alpin: Schutz vor Naturgefahren, Umweltmonitoring, präzisere Wetterprognosen, nachhaltiger Tourismus.
Datenquellen
- Stadt: Verkehrssensoren, Gebäudeinformationen, Mobilfunk, GPS, Wetterstationen.
- Alpin: Geo-Informationssysteme, Drohnen, Laser-Messungen, IoT-Sensorik, Satelliten.
Modelle
- Stadt: 3D-Ansichten, urbane Hitzeinseln, Verkehrs- und Besucherströme, Energieverbrauch.
- Alpin: Topografien, Hangrutschungen, Lawinen- und Murenrisiken, Wassermanagement.
Technik
- Stadt: GIS, BIM, IoT, Simulationen.
- Alpin: GIS, Fernerkundung, Umwelt-Simulationen, Frühwarnsysteme.
Beteiligte
- Stadt: Verwaltung, Planungsverbände, Energie- und Wasserbetriebe, Finanzplanung.
- Alpin: Gemeindeverbände, Bergwacht, Bergrettung, Umweltbehörden, Tourismusverbände.
Bersonderheiten
- Stadt: Datenschutz, Datensicherheit, Echtzeit-Datenintegration.
- Alpin: Extreme Topografie und Klimabedingungen, schwache Netzabdeckung.
Nutzen
- Stadt: Effizienter Verkehrsfluss, Smart-City-Lösungen.
- Alpin: Katastrophenschutz, Krisenintervention, Evakuierunsrouten, Notdienste.
Tiroler Leuchtturmprojekt "DigiSchutz"
Mit dem Projekt „DigiSchutz“ geht Tirol einen großen Schritt nach vorn. Das Land investiert fast 200.000 Euro, um mithilfe von KI und digitalen Zwillingen Naturgefahren wie Steinschlag, Hochwasser, Waldbrände, Lawinen oder auch den Borkenkäfer frühzeitig zu erkennen. Partner sind das MCI Innsbruck, die Universität Innsbruck und das Tiroler Unternehmen GMD (Geomorphing Detection).
GMD entwickelt präzise Anpassungsmodelle, die auf Kommunen, Skigebiete und Infrastrukturbetreiber zugeschnitten sind. So überwacht etwa ein Smart-City-Netzwerk in Kufstein Steinschläge am Festungsberg. Die Ergebnisse sollen anschließend auf weitere alpine Regionen übertragen werden.
Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Besucher:innenlenkung. Anonymisierte Radarsensoren und KI-gestützte Videosysteme steuern den Verkehr, erkennen freie Parkplätze und weisen sie über Anzeigen und Apps zu. Der Parksuchverkehr kann so um bis zu 50 Prozent reduziert werden. Gleichzeitig profitieren Skigebiete von einer besseren Pisten-Auslastung.
Sensordaten als Basis
Alle digitalen Zwillinge stehen und fallen mit der Qualität ihrer Daten. In Tirol werden IoT-Sensoren in Netzwerke eingebunden, die Pegelstände, Fließgeschwindigkeit, Temperatur oder Verformungen an Schutzbauten erfassen. Die Datenübertragung erfolgt über LoRa-Funknetze, die mit Photovoltaik betrieben werden und hunderte Sensoren gleichzeitig verwalten können.
Die Innsbrucker Kommunalbetriebe betreiben ein eigenes Long-Range-Netz, um Daten zu Wasser-, Wärme-, Strom- und Gasverbrauch zu übermitteln. Das Unternehmen alps.sens GmbH nutzt ähnliche Netze für IoT-Lösungen rund um Seilbahnen, die Fernüberwachung alpiner Ausrüstung, Lawinenwarnungen und Hochwasser-Frühwarnungen. Die Firma LASERDATA übersetzt die Sensordaten wiederum in präzise Gebäude- und Vegetationsmodelle.
Drohnen liefern mit LiDAR, multispektralen Kameras und Wärmebildsensoren hochauflösende Geodaten, während Satelliten optische Sensoren und Synthetic Aperture Radar (SAR) einsetzen, um Vegetationsflächen, Schneedecken oder Hangbewegungen zu erfassen. So entsteht ein umfassendes Bild der alpinen Umwelt.
Forschungskompetenz in Tirol
Tirol verfügt über eine starke wissenschaftliche Basis. Die Arbeitsgruppe Geoinformatik an der Universität Innsbruck beschäftigt sich mit digitalen Geländemodellen, Hochgebirgskartografie, Fernerkundung und GeoAI. Das Projekt „Av.geo.clim“ untersucht die Verwundbarkeit alpiner Infrastruktur und zeigt Naturgefahren entlang von Wanderwegen auf.
Der Forschungsschwerpunkt „Alpiner Raum“ bündelt acht Forschungszentren von Infrastrukturentwicklung bis Tourismus. Am MCI Innsbruck wurde bereits 2019 das Kompetenzzentrum „Digitaler Zwilling“ gegründet, das Unternehmen bei Simulationen unterstützt und auch im Projekt „DigiSchutz“ aktiv ist. Das Bundesforschungs- und Ausbildungszentrum für Wald, Naturgefahren und Landschaft (BFW) hat gemeinsam mit einem Drohnenhersteller die „AvaDrone“ entwickelt – eine innovative Lösung für die kostengünstige Sprengung von Lawinen.
Bedeutende Use-Cases
Wie vielseitig digitale Zwillinge eingesetzt werden können, zeigen aktuelle Projekte. „Mount Resilience“ etwa soll die Widerstandsfähigkeit gegenüber der Klimakrise stärken und urbane Hitzeinseln vermeiden. Daten aus Drohnen und Laserscannern werden dafür mit Besucherströmen verknüpft, um Tourismusregionen besser zu steuern.
Der datahub.tirol unterstützt Gemeinden im Lienzer Talboden beim Aufbau lokaler Datenräume und fördert die Entwicklung zu einer „Smart Region“. Am Achensee wiederum werden vernetzte Wetterstationen eingesetzt, die in Echtzeit präzise Prognosen liefern – ein Gewinn für Sicherheit, Tourismus und Eventplanung.
dathub.tirol: Plattform und Vorzeigemodell
Der datahub.tirol gilt als erster regionaler europäischer Data Space, der alle EU-Vorgaben in Hinsicht auf Datensicherheit und -souveränität erfüllt. Von Beginn an wurde der nach den Prinzipien des „Value-based Engineering“ aufgebaut – einem Ansatz, der sicherstellt, dass technische Entscheidungen stets an gesellschaftlich akzeptierten, ethisch vertretbaren und nachhaltigen Werten ausgerichtet sind.
Für diese Arbeit wurde der datahub.tirol 2025 gemeinsam mit dem Partner Sophisticated Simplicity mit dem Constantinus Award in der Kategorie „Ethik & Corporate Social Responsibility“ ausgezeichnet.
Kontakt
Sie möchten mehr über digitale Zwillinge, alpine Datenräume oder konkrete Einsatzmöglichkeiten erfahren?
Dann wenden Sie sich an:
Roman Seyyed, BSc
Digitalisierung und resiliente Produktion
m roman.seyyed@standort-tirol.at
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